Der Think-Tank
Die Avatar-Praxis ist eine normale Arztpraxis – und doch ganz anders
Parkplatz Seitenstreifen, Zentrum Scheeßel, Landkreis Rotenburg in Niedersachsen. Rund 12.000 Menschen leben hier. Die Zukunft der Versorgung erwartet man nicht unbedingt in dem zweckdienlichen roten Klinkerbau, in dem sich die Avatar-Praxis versteckt. Erster Stock, im Vorraum ein Digitalterminal zum Selbst-Check-In. Gleich hinter der nächsten Tür empfangen aber leibhaftige MFAs die Patienten. Zumindest auf den ersten Blick mutet eigentlich alles nach einer ganz normalen Arztpraxis an.
Hausarzt Dr. Jan Gerlach und seine Frau, Praxismanagerin Tanja Gerlach, nehmen sich viel Zeit, um zu erklären, was hier dann doch ganz anders ist. Ihr Ziel ist die Digitalisierung der Prozesse. Wer nun aber in den Gerlachs „Digital Natives“ erwartet, wird enttäuscht. Jan Gerlach stammt aus der Commodore-64-Generation, wie er schmunzelnd zugibt. Als seine Karriere damals im Krankenhaus begann, wurden Tumor-Sprechstunden noch per Telemonitor durchgeführt, ein riesiger Aufwand, bis alle Beteiligten aus Berlin oder München zusammengeschaltet waren. Und als Gerlach Mitte der 2000er-Jahre die Praxis in Scheeßel übernahm, fand er meterweise Patientenkarteikarten vor. „Mein erster Gedanke war, das muss sich ändern.“ Und es änderte sich. Heute greift er auf eine elektronische Behandlungsakte zu, legt dort seine Befunde digital ab, plant die Therapie, hat alles im Überblick und schon lange keine Karteikarte mehr in der Hand gehalten. So auch seine Patienten. Über eine Patienten-App sind sie mit der Praxis digital verbunden und aktiv beteiligt. Können Blutergebnisse einsehen oder Termine ausmachen. Dass sie dabei nicht immer auf Dr. Gerlach physisch treffen, sondern auch auf eine Ärztin oder einen Arzt, der nur auf dem Bildschirm im Behandlungszimmer auftaucht, ist für die meisten völlig okay. Videosprechstunden sind in der Avatar-Praxis ganz normal. Dass die angestellten ärztlichen Kolleginnen und Kollegen vom Homeoffice aus arbeiten auch. Und die haben richtig Lust auf das Format. Gerlach: „Wir müssen die ärztliche Ressource dort abholen, wo wir sie finden, zu angemessenen Konditionen und mit einem attraktiven Angebot.“ Das funktioniert. Gerade haben die Gerlachs zwei neue Ärzte eingestellt – und können sich vor weiteren Bewerbungen kaum retten.
Tanja Gerlach ergänzt: „Aufgrund der deutschen Rechtsprechung dürfen wir zurzeit nur in einem bestimmten Umfang Videosprechstunden anbieten. Ich denke aber, dass voll digitale Lösungen nicht aufzuhalten sind.“ Doch wie reagieren die – älteren – Patienten wirklich auf die Digitalisierung der Versorgung? „Nachdem 80-jährige im Wartezimmer Candy-Crush spielten, wusste ich, die Kapazität ist da“, sagt Jan Gerlach. Und Tanja ergänzt: „Natürlich haben wir vorsichtig angefangen, aber das Smartphone hat sich auch bei Senioren voll durchgesetzt, viele sind da sehr dynamisch unterwegs.“
Und noch etwas kommt hinzu. Viele der Älteren müssen den Weg in die Praxis dank digitaler Lösungen gar nicht mehr auf sich nehmen. Sie erhalten stattdessen Besuch von einer qualifizierten MFA. Der Praxismitarbeiter kommt mit einem telemedizinischen Koffer zum Hausbesuch und bringt Arzt Jan Gerlach auf dem integrierten Monitor per Video mit. Blutdruck messen, Ultraschall, EKG – alles kein Problem. Gerlach sieht die Messergebnisse zeitgleich auf seinem PC in der Praxis, kann mit dem Patienten sprechen und seine Mitarbeiter instruieren. Während die MFA im Wohnzimmer zusammenpackt, kümmert sich Gerlach in der Praxis bereits um die nächsten Patienten. „Viele denken, der Arzt sei durch die Technik nicht mehr wirklich vor Ort, aber“, so Gerlach, „der telemedizinische Arzt kann dort sein, wo vorher gar keiner war. Das ist die Verbesserung.“ So deckt er nicht nur zeitaufwändige Hausbesuche ab, sondern versorgt auch Heimbewohnerinnen und -bewohner. Früher hat er das in diesem Umfang nicht geschafft. Zum Einsatz kommen dabei neben dem telemedizinischen Koffer weitere hochentwickelte, digitale Geräte wie ein sehr kleines, aber voll vernetztes 24-Stunden-EKG-Gerät, dessen Messungen von einer KI ausgewertet werden. „Die Sicherheit ist besser geworden als vorher“, ist Gerlach sicher.
„Der Praxismitarbeiter kommt mit einem telemedizinischen Koffer zum Hausbesuch und bringt den Arzt auf dem integrierten Monitor per Video mit.“
Tanja Gerlach, Praxismanagerin
Und noch ein Aspekt ist den Gerlachs wichtig. In Zeiten des Fachkräftemangels müsse man sich bewusst machen, dass die MFA eine Fachangestellte und damit eine medizinische Ressource sei. Patienten am Tresen in Empfang nehmen oder andere Routineaufgaben wie das Terminmanagement erledigen, könnten Verwaltungsfachangestellte übernehmen, oder wie in der Avatarpraxis, eine Kollegin, die einst eine Burger-King-Filiale an der Autobahn leitete. Die könne mit Menschen umgehen – und einfach nachfragen, wenn sie am Tresen mal medizinisch nicht weiterweiß.
Die Gerlachs sehen ihre Praxis als Think-Tank, dessen Ideen sie hinaustragen und in dem sie fachübergreifend zusammenkommen wollen, den von ihren Erfahrungen sollen auch andere profitieren. „Eine geile Sache“, betont Tanja Gerlach. Das nächste Projekt ist die Gründung eines MVZ im ehemaligen OsteMed-Klinikum im nahegelegenen Zeven. Neben digitaler Infrastruktur wird es einen großen Schulungsraum geben. Mit dem MVZ wollen sie zudem ältere Kolleginnen und Kollegen ansprechen, die allein den Weg in die Digitalisierung nicht gehen würden. Ein attraktives Modell, wenn erfahrenen Ärztinnen und Ärzte die Infrastruktur zur Verfügung gestellt wird und sie sich so auf das konzentrieren können, was sie wirklich machen wollen: Medizin. Aber nicht nur die älteren, auch die jungen Kollegen finden eine Anstellung in einem MVZ gut – die ärztlichen wie die nicht-ärztlichen übrigens. „Die haben doch ein ganz anderes Mindset“, sagt Tanja Gerlach. „Die wollen nicht mehr 16 Stunden am Tag arbeiten oder irgendwo auf dem Dorf festhängen. Dazu sagen die einfach Nö.“ Der Nachwuchs wolle eben nicht mehr allein tätig sein, dafür aber digital, zumindest hybrid und zeitlich flexibel. Diese Anforderungen gehen auch mit einer Restrukturierung der Praxisorganisation einher. „Ein Arzt ist gar nicht bei allen Tätigkeiten in der Praxis oder am Patienten erforderlich“, sagt Jan Gerlach. Bedeutet im Umkehrschluss: So ein Full-Time-Angestellter ist viel zu teuer. Und auch starre Praxisöffnungszeiten braucht niemand mehr, ist Gerlach überzeugt. Befunde könnten auch donnerstags von 18 bis 21 per Video besprochen werden, wenn die Patienten bereits entspannt im Feierabend sind. „Dieses 8 bis 12 und 15 bis 18 Uhr muss weg“, sagt auch Tanja Gerlach.
Wem das nicht genug ist: Die Gerlachs bauen derzeit eine mobile Arztpraxis, ein Avatar-Mobil sozusagen, um umliegende Gemeinden und entlegene Gebiete besser versorgen zu können – bislang ohne Fördergelder. Auch hier steht die Digitalisierung natürlich im Fokus.
Die digitalen Lösungen der Avatar-Praxis sind mittlerweile bis nach Berlin vorgedrungen. Im Herbst 2024 war SPD-Chef Lars Klingbeil in Scheeßel, um sich die Zukunft der Versorgung anzusehen. Er zeigte sich angetan, welche Priorität eine neue Bundesregierung aber dem Thema Gesundheitsversorgung einräumt, bleibt abzuwarten. Tanja Gerlach forderte dennoch die Auflösung der 70/30-Regel von Klingbeil, also die gegenwärtige Vorgabe, maximal 30 Prozent der Sprechstunden per Video anbieten zu dürfen. Außerdem müsse der EBM angepasst werden, um Videosprechstunden endlich adäquat abrechnen zu können.
„Das alles ist Pionierarbeit, die muss man wollen. Geld verdient man anderswo“, so Ehepaar Gerlach. Aber jeden Tag passiere derzeit so viel, das sei unglaublich toll. „Dieser Idealismus ist daraus geboren, dass wir keine Lust mehr darauf hatten, wie es vorher war. Wir wollen uns weiterentwickeln und das Arbeitsumfeld zum Positiven verändern.“ Mit der Uni-Oldenburg starten sie übrigens bald eine rein digitale, akademische Lehrpraxis. An Zukunftsperspektiven mangelt es im Scheeßeler Think-Tank also nicht. Hier im unscheinbaren roten Klinkerbau entstehen die digitalen Ideen der medizinischen Versorgung von Morgen.