Etwas mehr ist nicht mehr genug
Zentralinstitut für die Kassenärztliche Versorgung fordert in Bedarfsanalyse mehr Medizinstudienplätze für künftigen Ärztebedarf
Der Bedarf an Ärzten ähnelt einem Wellental. In den 1980er- und 1990er-Jahren schwammen wir auf der Welle: Deutschland erlebte einen Boom an ärztlichen Niederlassungen. Eine ganze Generation von jungen Medizinerinnen und Medizinern zog damals binnen weniger Jahre in die eigene Praxis auf dem Lande und hat seitdem die Arztsitze inne. Dort hat sie ihr Berufsleben verbracht – und wird nun wieder innerhalb weniger Jahre in den Ruhestand gehen. Bis 2035 wird dadurch die Versorgung auf etwa 71 Prozent des derzeitigen Niveaus absinken.
Plötzlich brauchen wir mehr Ärztinnen und Ärzte, um die entstehenden Lücken zu schließen. Doch da liegt die Krux: Nach der „Ärzteschwemme“ schien der Bedarf auf unabsehbare Zeit gesichert. Die Länder bauten viele der kostspieligen Medizinstudienplätze ab. Jetzt kommen nicht genug Mediziner nach. Die, die kommen, haben meist nicht die eigene Praxis im Visier. Schon gar nicht auf dem Lande. Und wer als Angestellter in eine Praxis kommt, arbeitet deutlich weniger als ein Praxisinhaber und oft in Teilzeit. Nicht die Ärztezahl, die „Arztzeit“ wird so zum entscheidenden Faktor.
Die naheliegende Antwort ist, dass wieder mehr Ärzte ausgebildet werden müssen. Wir brauchen zusätzliche Studienplätze. Wie viele genau, hat das „Zentralinstitut für die Kassenärztliche Versorgung“ (ZI) zu ermitteln versucht. Dazu berechnete es die durchschnittliche auf Arztzeit umgerechnete Inanspruchnahme von Ärzten je Altersgruppe der Bevölkerung und schrieb sie anhand der erwartbaren Bevölkerungsentwicklung fort. Dies wurde zu den voraussichtlichen Eintritten von Ärzten in den Ruhestand in Beziehung gesetzt (Abb. 1). Berücksichtigt wurde auch die mutmaßliche Zahl der zu- und abwandernden Ärzte aus dem und in das Ausland. Der künftige Leistungsbedarf betrifft zudem die ärztlichen Fachrichtungen in unterschiedlichem Maße. So werden etwa kinderärztliche Leistungen vorwiegend bis zum 18. Lebensjahr, gynäkologische Leistungen von Frauen mittleren Alters und urologische Leistungen insbesondere von Männern höherer Altersgruppen in Anspruch genommen. Diese Gruppen verändern sich zahlenmäßig im Laufe der Zeit.
Erreichen der Regelaltersgrenze durch heutige Ärzte im vertragsärztlichen und stationären Sektor bis zum Jahr 2035
Quelle: Bundesarztregister
Das Ergebnis ist eine komplexe Formel, nach der sich der zu erwartende Behandlungsbedarf in Zukunft ermitteln lässt und demzufolge auch der künftige Mehrbedarf an Ärzten. Vordergründig gibt die Studie des ZI Entwarnung: Bis 2035 müssten jährlich 9.000 aktive Ärzte ersetzt werden. „Vergleicht man dies mit einer aktuellen Zahl von ca. 11.000 Studienplätzen in der Humanmedizin in Deutschland, scheint es auf den ersten Blick auch bis zum Jahr 2035 keinen Mangel an Medizinern zu geben.“
Allerdings begnügen sich immer mehr Ärzte mit einer Teilzeitanstellung. Viele gehen auch nicht in die Versorgung, sondern etwa in den öffentlichen Gesundheitsdienst oder die Forschung. Daher sind laut ZI bundesweit rund 3.600 Studienplätze über die derzeit geltenden Planungszahlen hinaus nötig. Das schwankt von Bundesland zu Bundesland. In Niedersachsen, Bayern und im KV-Bereich Westfalen-Lippe ist die Lücke zum erwarteten Bedarf besonders hoch – hier werden jeweils rund 600 neue Studienplätze benötigt (Abb. 2). Ansonsten lasse sich das heutige Versorgungsniveau in Zukunft nicht halten.
Fehlende Studienplätze nach KV-Regionen (aktuelle Zielvorgabe für Studienplätze)
Quelle: Eigene Berechnungen des ZI auf Grundlage der Projektion
Kommentar: Augen auf und durch?
400 bis 600 zusätzliche Medizinstudienplätze müssten laut dem ZI pro Jahr in Niedersachsen schnellstens her, um auch im Jahr 2035 die Bevölkerung so mit Ärzten versorgen zu können wie heute. So rechnet nicht nur das ZI. Seit Jahren drängt die ärztliche Selbstverwaltung in Niedersachsen die Landesregierung, mehr Studienplätze im Fach Medizin einzurichten – von derzeit 789 auf mindestens 1.200.
Das Land beteuert seinen guten Willen – und zögert doch. An der Uni Oldenburg wurde zum Wintersemester 2022/2023 die Zahl der Plätze für Studienanfänger von 80 auf 120 erhöht. Längerfristig sollen es 200 werden. 60 davon sollen für die „Landarztquote“ reserviert werden. Die kommen also, anders als erwartet, nicht obendrauf. 50 weitere Studienanfängerplätze je in Hannover und in Göttingen stehen unter Vorbehalt – wenn der Landeshaushalt es denn hergibt.
Hier liegt das Problem: Medizinstudienplätze sind teuer. Diese Investition lohnt sich für das Land nur, wenn sie für die künftige Versorgung der Bevölkerung unverzichtbar ist. Aber ist sie das? Das Sozialministerium setzt auf eine andere Option: Die anstehenden Reformen im Krankenhausbereich, lässt es verlautbaren, werden ausgebildetes medizinisches Personal freisetzen, das dann in den ambulanten Bereich umgelenkt werden kann.
Diese Aussicht ist so ungewiss wie alle Prognosen zu künftigen Bevölkerungszahlen, zu Migrationszuwächsen und zur Morbiditätsentwicklung. Sicher ist nur: Jeder Studienanfänger im Fach Medizin, der jetzt sein Studium aufnimmt, wird erst in etwa 15 Jahren in der Versorgung ankommen. Um 2040 aber wird sich der „Rentnerberg“, den es zu versorgen gilt, durch natürliche Sterblichkeit bereits erheblich reduziert haben. Wir stünden just dann vor einer neuen „Ärzteschwemme“, wenn sich das Problem von alleine löst.
Spielt die Politik bis dahin auf Zeit? Ihre Chance hat sie ohnehin verpasst. Die Ärzte, die in den nächsten Jahren dringend gebraucht würden, hätten vor zehn Jahren ihren Studienplatz erhalten müssen. Jetzt bleibt gegen sinkende Arztzahlen nur noch die vage Hoffnung auf Umschichtungen im Medizinbetrieb. Für Praxen und Patienten heißt es in den nächsten Jahren daher: „Augen auf und durch“.