Kein Patient wird abgewiesen
Medizinischen Versorgungszentren wird oft unterstellt, Profitcenter für private Investoren zu sein. Doch es geht auch anders – wenn Ärzte selbst zu Praxisunternehmern werden und die medizinische Versorgung stabilisieren
Eine eigene Praxis lohnt sich nicht mehr? Dann nehmen Sie doch 11 davon! Dann rechnet es sich. Davon sind Henrike Wittum (46) und Thomas Eriksen (64) in Obernkirchen fest überzeugt. Die beiden niedergelassenen Allgemeinmediziner haben in den letzten Jahren im Schaumburger Land ein weitverzweigtes Medizinisches Versorgungszentrum aufgebaut, das mittlerweile 11 hausärztliche Praxen und über 100 Mitarbeiter umfasst. Zusammen versorgen sie mehr als 20.000 Patienten.
Die Anfänge des MVZ liegen noch gar nicht so lange zurück. Thomas Eriksen hat sich 2014 in Obernkirchen niedergelassen. 2016 kam Henrike Wittum hinzu. Ihre Gemeinschaftspraxis war umgeben von oft hochbetagten hausärztlichen Kollegen. Und die haben nach und nach zugemacht. „Der erste Arzt war verschwunden, da war ich drei Monate da“, erinnert sich Henrike Wittum. „Und dann schwemmten uns die Menschen so rein.“ Bald konnten die beiden das nicht mehr auffangen – und stellten einen Arzt an.
Übernahme bei Gelegenheit
Viele Patienten kamen aus der weiteren Umgebung. In Stadthagen bauten Wittum und Eriksen daraufhin 2019 ihre erste Zweigpraxis auf. „Das haben wir noch alleine gemacht und dort im Wechsel gearbeitet. Und dann sind uns die Praxen nach und nach vor die Füße gefallen.“ Eine Strategie, betonen beide, stand nicht dahinter. „Wir haben nicht gesagt: Wir wollen! Sondern die Kollegen, die abgeben wollten, die sind immer an uns herangetreten und haben gesagt: 'Wir mögen nicht mehr. Habt ihr eine Idee?' Wir haben keinen gefragt.“
Das klingt ein bisschen wie „Retter in der Not“, und manchmal waren sie das vielleicht auch. Immer wieder erleben sie, dass Kolleginnen und Kollegen erst in letzter Minute darüber nachzudenken beginnen, wie sie noch etwas für ihre Praxis bekommen, wenn sie in den Ruhestand wechseln. Doch so ein Wechsel braucht Vorlauf, ein halbes Jahr mindestens. Im Idealfall bringt sich der bisherige Praxisinhaber mit ein, arbeitet noch eine Zeitlang mit. Das ist nicht immer ganz leicht für einen Arzt, der lange Zeit Chef gewesen ist und sich jetzt sagen lassen muss: Dies und das machen wir künftig anders. Viele sind aber auch ganz dankbar, wenn sie sich nur noch auf die Medizin zu konzentrieren brauchen.
Problem Ärztemangel
Doch irgendwann muss ein Nachfolger gefunden werden. Das kann schwierig werden. In Lindhorst etwa brennt es. Da fehlt ein Arzt, der wirklich Vollzeit arbeitet, um den Patientenandrang aufzufangen. Woher nehmen? „Zu Beginn waren das Kollegen, die wir noch persönlich kannten, von denen wir wussten: Der ist in der Klinik nicht so glücklich“, erinnert sich Wittum. Mitunter hatten auch Stellenanzeigen im niedersächsischen Ärzteblatt Erfolg. Aber in letzter Zeit läuft es mehr und mehr über Headhunter.
Ein heikles Thema. „Es ist finanziell eine Katastrophe für uns. Das kostet sehr viel Geld.“ Angestellte Ärzte erwarten ein gutes Honorar und faire Urlaubsregelungen. „Erst gehen wir damit ins Minus. Bis sich die Patienten auf diesen neuen Kollegen eingespielt haben. Aber das ist es wert.“
Am besten ist es, jemanden zu finden, der bereits in der Region verwurzelt ist und ohnehin hier leben möchte. Mittlerweile beschäftigt das MVZ auch mehrere Weiterbildungsassistenten. Vielleicht wechselt der eine oder die andere später in die Festanstellung.
Bei den Medizinischen Fachangestellten sieht es derzeit etwas entspannter aus. Die MFA müssen bei Praxisübernahmen sowieso übernommen werden. Und die bleiben meist auch unter den neuen Betreibern – glücklicherweise. „Die MFA sind Gold wert“, weiß Eriksen. „Da haben die Patienten weiter ihre vertrauten Gesichter, wenn der alte Arzt weg ist.“
Vorteile durch Flexibilität
Momentan beläuft sich der Personalbestand auf 27 Ärztinnen und Ärzte und über 80 MFA. Damit lassen sich im Krankheits- oder Urlaubsfall Vertretungen leichter organisieren. Der Anspruch des Medizinischen Versorgungszentrums ist es, dass jede Praxis mit mindestens zwei Ärzten besetzt ist, um mindestens 25 Stunden die Woche geöffnet zu haben. Urlaubsschließungen gibt es nicht.
Dafür gibt es einen „bunten Blumenstrauß“ an unterschiedlichsten Arbeitszeitmodellen, angepasst an die individuellen Lebensumstände. Henrike Wittum weiß aus eigener Erfahrung, wie wichtig diese Flexibilität ist. „Als ich in die Niederlassung kam, war mein jüngstes Kind vier, die beiden anderen je zwei Jahre älter. Ich war auch schon darauf angewiesen, dass ich schnell mal zum Kindergarten fahren konnte.“ In Obernkirchen gibt es eine Kollegin, die ist 69. „Die kommt noch zwei Vormittage rein. Das tut ihr gut und den Patienten auch. Die ist hochqualifiziert als Allergologin.“
Einheit mit Vielfalt
Praxisneubau, Arbeitszeitmodelle, Vertretungsregelungen – wann ist daraus ein mittelständisches Unternehmen geworden? „Wir haben das gar nicht gemerkt“, meint Eriksen. „Wir sind da so blind reingegangen. Wir haben mit Schmerzen gelernt.“ Anfänglich haben die beiden versucht, alles selbst zu machen. Haben abends noch die Computer gewartet und Backups gemacht und neue Rechner installiert. Bis die Einsicht kam: „Wir brauchen einen Techniker dafür.“
Mittlerweile gibt es auch eine Personalreferentin und einige Verwaltungsangestellte. Henrike Wittums Mann ist Rechtsanwalt – „der berät uns gut und guckt auf das Betriebswirtschaftliche, was uns beiden gar nicht liegt.“ Denn natürlich muss es sich rechnen. Das MVZ wurde in zwei Firmen aufgeteilt, um die Wirtschaftlichkeit besser im Blick zu behalten – „welche Kostenfaktoren hat welcher Standort und was bringen sie auch tatsächlich rein? Wo müssen wir nacharbeiten?“ Um die Honorarabrechnung kümmern sich mehrere Abrechnungsassistentinnen.
Eine gewisse Einheitlichkeit ist unverzichtbar, sowohl in der Software wie in den Arbeitsabläufen. So finden die Mitarbeiterinnen bei Vertretungen auch überall dieselben Arbeitsbedingungen vor. Praxisübernahmen bringen daher oft einen Modernisierungsschub mit sich. Der Digitalisierungsgrad ist bei übernommenen Praxen sehr unterschiedlich. So wie kürzlich in Barsinghausen, wo zwei Praxen zu einer zusammengeführt wurden. Das eine Team war sehr technikaffin, das andere eher weniger. Eine Herausforderung, die auf einen Stand zu bringen.
Aber das wollen Wittum und Eriksen nicht einfach von oben überstülpen. Ihnen ist es wichtig, in jeder übernommenen Praxis eine Zeitlang mitzuarbeiten, um erst einmal die gewohnten Abläufe dort kennenzulernen. Wenn sie dann sehen: Auf andere Weise funktioniert es auch gut, dann kann es so bleiben.
Für sie ist es essentiell, dass die Mitarbeitenden daran interessiert sind, voranzukommen und selbständig mitarbeiten zu können. Zwei MFA haben sich mittlerweile zur Fachwirtin fortgebildet, und mehrere sind zu VERAHs ausgebildet worden – „die sind natürlich für uns total wichtig, weil wir so viele Hausbesuche machen.“ Das MVZ verliert kaum einmal Mitarbeiter.
Gibt es auch „Aussteiger“ – also angestellte Ärztinnen oder Ärzte, die sich nach einer „Anlaufphase“ zum Wechsel in die eigene Niederlassung entschließen? Bislang nur einmal. „Die meisten unserer angestellten Ärzte haben diesen Weg bewusst so gewählt“, sagt Wittum. „Die wollen nicht das Risiko und die finanzielle Belastung übernehmen. Für eine junge Mutter etwa ist es auch sehr bequem. Sie kommt, kümmert sich um die Patienten und fährt wieder weg. Der Apparat ist im Hintergrund und sie kann sich ganz auf das Medizinische konzentrieren.“
Auf Wachstumskurs
Bei alldem verstehen sich Wittum und Eriksen als Hausärzte durch und durch. Kein Gedanke, sich aus der Praxis herauszuziehen und nur noch als Unternehmer zu wirken. „Die Stunden in der medizinischen Versorgung werden wir reduzieren müssen“, räumt Eriksen ein. „Aber den Bezug zu den Patienten möchte ich nicht verlieren.“
Viele der Niedergelassenen ringsum vermuten andere Motive. „Ihr wollt doch nur Geld machen“, heißt es dann. „Viele sehen uns als Bedrohung an“, wundert sich Eriksen. Dabei gebe es bestimmt keinen Mangel an Patienten. „Wir haben noch niemandem etwas weggenommen.“ Und für Vertretungen wird das MVZ, das nie Urlaub macht, gerne in Anspruch genommen.
Daher wird das Unternehmen auch weiterhin wachsen. „Irgendwas muss passieren in der hausärztlichen Versorgung und in der Medizin drumherum. Was uns sehr wichtig ist: Wir schicken keinen Patienten weg. Wir haben noch nie gesagt, wir nehmen keinen Patienten mehr auf.“
Henrike Wittum und Thomas Eriksen sind überzeugt, dass es genug Ärzte gibt, die gerne Hausärzte sind. Man müsse eben dazu kommen, dass die sich eine Atmosphäre schaffen können, in der sie sich wohlfühlen. „Unsere Aufgabe ist es, den Unterbau so zu organisieren, dass wir das stemmen können. Dann hat das hier Zukunft. Und aufhören wollen wir nicht.“