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RVZ

Das alte Gebäude des Kinderheims und späteren Bundeswehrklinik in Nordholz wurde als Standort des Regionalen Versorgungszentrums grundsaniert.

Foto: RVZ Wurster Nordseeküste

Versorgung anders gedacht

An der Wurster Nordseeküste zwischen Bremerhaven und Cuxhaven hat das erste Regionale Versorgungszentrum eröffnet. Es bündelt medizinische Versorgungsangebote unter einem Dach und hat Erfolg damit

Text: Dr. Uwe Köster

Das alte Gebäude in Nordholz ist seiner Bestimmung treu geblieben. Errichtet als Kinderheim und jahrzehntelang genutzt als Klinik, stand es nach seiner Schließung längere Zeit leer, wurde dann ab Ende 2020 kernsaniert und bildet seit Frühjahr 2022 das erste Regionale Versorgungszentrum (RVZ) in Niedersachsen.

Insgesamt fünf RVZ gibt es mittlerweile in fünf verschiedenen „Modellregionen“ Niedersachsens. Sie sind ein gesundheitspolitisches Vorzeigeprojekt der Landesregierung und wurden in den letzten Jahren mit Zuschüssen in Millionenhöhe ins Leben gerufen. Sie sollen medizinische Versorgungsangebote für die Bevölkerung bündeln und dort zur Daseinsvorsorge beitragen, wo sich Ärzte nicht mehr in eigener Praxis niederlassen möchten. Neu daran ist nicht die Medizin. Neu daran ist, dass bei den RVZ die Kommunen als Betreiber und Gesellschafter medizinischer Einrichtungen eintreten mit wirtschaftlicher Verantwortung und entsprechenden Haftungsrisiken.

Längst nicht überall ist die Kommunalpolitik zu einem solchen Einsatz bereit. Doch im Gebiet von Nordholz gab es Handlungsbedarf. Hier bestand seit Längerem eine hausärztliche Unterversorgung. Für hausärztliche Neuniederlassungen waren sogar Umsatzgarantien ausgeschrieben ohne Erfolg. Das Angebot des Landes Niedersachsen, daher eine Modellregion für ein RVZ einzurichten, wurde hier gerne angenommen.

Das Land übernahm eine Anschubfinanzierung in Millionenhöhe, mit der die Gründung und der Aufbau des RVZ vorangetrieben wurde. Der Gebäudekomplex selbst wurde vom ortsansässigen Eigentümer gemietet, der diesen nach den Vorgaben des RVZ umbaute und sanierte. Zum Betrieb des RVZ gründeten der Landkreis Cuxhaven und die Gemeinde Wurster Nordseeküste eine Gemeinnützige GmbH, in dessen Stammkapital sie als Gesellschafter je zur Hälfte einzahlten. Für Dr. Andreas Rühle, Geschäftsführer des RVZ, ist die Unterstützung durch Politik und Verwaltung ausschlaggebend: „Wenn Kommunen nicht hundertprozentig dahinterstehen, dann sollte man von solchen Vorhaben die Finger lassen.“ Die kommunalen Gremien stehen einstimmig hinter diesem Vorhaben. Mit der Gemeinde, der Kreisverwaltung, dem Beteiligungsmanagement mit allen habe sich eine hervorragende Zusammenarbeit entwickelt.

Auf Expansionskurs

Gab es Anlaufschwierigkeiten, Durststrecken? Nun, die Umbauphase dauerte länger als erwartet. Ende 2020 hatten die Arbeiten begonnen, eröffnet wurde das RGZ dann zum 1. Februar 2022. Weitere Gebäudeabschnitte konnten erst im Frühjahr 2023 in Betrieb genommen werden. „Aber von der Versorgung her ist es optimal gelaufen.“

Von der wirtschaftlichen Seite bislang auch. Im Kern besteht die Gesellschaft aus einem hausärztlichen medizinischen Versorgungszentrum, in dem mittlerweile vier angestellte Ärztinnen und Ärzte tätig sind. Dr. Johannes Kossen hat nach 35jähriger Selbständigkeit in Nordholz seinen Praxissitz und seinen Patientenstamm hier eingebracht. Die Kolleginnen und Kollegen sind aus dem Klinikbereich oder aus anderen Medizinischen Versorgungszentren hinzugekommen. Mittlerweile wird nach einer fünften hausärztlichen Kraft gesucht. Eine VERAH ist für Hausbesuche zuständig, eine „Physician Assistant“ ist im Rahmen eines Werksstudiums vor Ort.

Als selbständige Mieter sind zudem eine gynäkologische, eine kinderärztliche und eine Praxis für Oralchirurgie und Implantologie unter das Dach des RVZ gezogen. Zudem gibt es eine Physiotherapiepraxis, eine Psychotherapiepraxis, eine Ergotherapie, eine Tagespflegeeinrichtung, den Demenzstützpunkt Cuxland und das Café „Solferino“. Geschäftsführer Rühle möchte gerne noch weitere Ärzte anderer Fachrichtungen mit hinzuholen. Gespräche laufen, aber das bleibt noch vertraulich. Das Regionale Versorgungszentrum expandiert also; seit 2023 trägt es sich finanziell. Das ist ein Erfolg. Aber führt das auch zu einem Zuwachs an Versorgungsqualität, der über das gängige System selbständiger Einzelpraxen hinausgeht?

Zunächst findet wieder ärztliche Versorgung dort statt, wo sie vorher stark eingeschränkt war. Hausarzt Kossen war schon vorher in der Region, aber die drei anderen Hausärzte und -ärztinnen sind neu. Die Möglichkeit, im RVZ angestellt zu arbeiten, hat zur Besetzung weiterer Arztsitze geführt. Eine ärztliche Kollegin kam aus der Klinik, hatte Interesse an der hausärztlichen Versorgung, wollte aber einen erfahrenen Kollegen an ihrer Seite haben. Auch der Inhaber der Kinderarztpraxis hat jetzt vier angestellte Ärztinnen und Ärzte. „Das ist ein deutlicher Zuwachs an Versorgungskapazität in allen Bereichen, den wir hier im RVZ haben“, so Rühle. Die kommunale Trägerschaft verleiht zudem ein Stück weit Sicherheit, eine Zukunftsperspektive. Es geht aber auch umgekehrt: Die Physiotherapeutin beispielsweise war vorher in einer anderen Einrichtung angestellt und hat sich im Rahmen des RVZ selbständig gemacht.

„Wenn Kommunen nicht hundertprozentig dahinterstehen, dann sollte man von solchen Vorhaben die Finger lassen.“

Dr. Andreas Rühle, Geschäftsführer

Neue Konzepte gegen bekannte Probleme

Bei der ärztlichen Zulassung hat die KVN das letzte Wort. Sie „mauert“ nicht gegen die ihr fremde Einrichtung, spendiert ihr aber keine zusätzlichen Arztsitze. Daher bekommt das RVZ auch nicht die Orthopädiepraxis, die Rühle gerne hätte. Und eine bestehende Praxis dorthin verlegen? Bislang hat sich das nicht ergeben. Aber unter den Niedergelassenen in der Gegend gibt es keine Ressentiments gegen das RVZ – wohl auch, weil es niemandem etwas wegnimmt und eine Lücke schließt. Es hat immer geöffnet, kann also bei Bedarf Vertretungen übernehmen.

Andererseits stößt das RVZ wie alle anderen auf die typischen Probleme der ambulanten Versorgung: Es herrscht ein akuter Mangel an medizinischen Fachangestellten. Ein weiterer „Physician Assistent“ mit abgeschlossener Ausbildung wird bundesweit gesucht bislang ohne Erfolg. Eine Zeitlang war die telefonische Erreichbarkeit eingeschränkt. Jetzt ist ein digitaler Kommunikationsassistent im Einsatz. Per Spracherkennung werden alle eingehenden Anrufe verschriftlicht und später von den Mitarbeiterinnen der Praxis abgearbeitet, teilweise abends im Homeoffice. Die Software bietet große Vorteile. Sie ist direkt an die Patientendatei gekoppelt; Informationen lassen sich von dort einfach aufrufen oder dort ablegen, Rezepte lassen sich leicht ausstellen, Terminbuchungen und -erinnerungen vornehmen. Für die Patienten ist es eine Umstellung. Sie müssen sich für die Dienste registrieren und eine App auf ihr Smartphone laden. Gerade bei Älteren stößt das auch mal auf Probleme. Aber für diese Zielgruppe bietet das RVZ spezielle Schulungen in den eigenen Räumen an. Das wird von den meisten Patienten akzeptiert. „Es ist auch ein bisschen Erziehung dabei“, gibt Rühle zu. Rund 3.300 Patienten betreut das hausärztliche MVZ derzeit.

Foto: Dr. Uwe Köster

Dr. Andreas Rühle ist Geschäftsführer der „ägnw Management GmbH“, einer Tochtergesellschaft der Ärztegenossenschaft Niedersachsen“, und über einen Geschäftsbesorgungsvertrag für das RVZ tätig. Der kooperative Gedanke hinter der Einrichtung ist sein zentrales Anliegen.

Innovationen, Arbeitszeitmodelle und rotierende Einsätze lassen sich in dem RVZ leichter umsetzen. In der Eingangshalle gibt es ein Empfangsdesk, der jede Woche von einer anderen MFA besetzt ist. Das entlastet die Praxis im ersten Stock. Das Einlesen der Versichertenkarte übernehmen die Patienten an einem Kartenterminal selbst. Abrechnung und Verwaltungsaufgaben werden von einer eigenen Fachkraft erledigt. So kann sich das ärztliche Personal ganz auf die Behandlungen konzentrieren.

Zur Finanzierung der zusätzlichen Angebote Casemanagement, Physician Assistant und Telemedizin hat das RVZ einen Vertrag mit dem VDEK. Eine ausgebildete VERAH führt Hausbesuche weitgehend selbständig durch und kann bei Bedarf die Ärzte in der Praxis per Video hinzuziehen. Auch das entlastet die Ärzte in der Praxis und ist ein zusätzliches Versorgungsangebot für immobile Patienten in der Fläche.

Eine andere Option sind die Tagespflegeeinrichtung und der zur Trägergesellschaft gehörende Demenzstützpunkt, der Anfang 2024 seine Arbeit mit einer eigenen Casemanagerin aufgenommen hat. Dort richtet man den Blick jetzt auch auf ein klassisches Case-Management für geriatrische Patienten. Die hausärztliche Praxis arbeitet mit dieser Einrichtung eng zusammen. Patienten und Angehörige können sich unkompliziert einen Beratungstermin geben lassen. Bei Bedarf kommt die Casemanagerin in die Häuslichkeit.

Hier bildet sich ein Versorgungsnetzwerk, das Rühle weiter ausbauen möchte: „Das bekomme ich in der klassischen Hausarztpraxis so nicht umgesetzt.“ Im RVZ sind die Wege kurz, stehen die Einrichtungen untereinander in Verbindung. „Integrierte Strukturen“ etwa im Sinne gemeinsamer Fallkonferenzen gibt es aber (noch) nicht. Das mag sich ändern, wenn neue Disziplinen mit hinzukommen und das RVZ Nordholz weiter auf Erfolgskurs bleibt.