Schwerpunkt

Bedarfsplanung

Wieviel Arzt braucht der Mensch?

Die „Bedarfsplanung“ ist die Grundlage für die ärztliche Versorgung der Bevölkerung. Aber spiegelt sie wirklich, was die Patienten brauchen?

Text: Dr. Uwe Köster Foto: Andrea Seifert

In kaum einem Land gehen die Menschen so häufig zum Arzt wie in Deutschland jeder rund 18 Mal im Jahr.

Wieviel Ärzte brauchen wir? Wer kann das bestimmen? „Rund ein Drittel der Erwachsenen in Deutschland leidet unter Rückenschmerzen. 26,2 Millionen Menschen suchen deshalb ärztliche Hilfe“, verkündete unlängst eine Pressemitteilung. Und nur etwa jeder 12. Mensch mit chronischen Schmerzen erhält einen Behandlungsplatz mit ausreichender Fachkenntnis. Ärzte und Psychologen kann es demnach wohl gar nicht genug geben.

Doch irgendwie muss man ihre Zahl begrenzen und sie einigermaßen gerecht im Land verteilen. Dafür sorgt die Bedarfsplanungsrichtlinie. Sie teilt das ganze Bundesgebiet in mehr oder weniger große Gebiete ein und legt detailliert fest, wie viele Ärzte welcher Fachrichtung sich in einer Gegend niederlassen dürfen. Es ist explizit geregelt, dass durchschnittlich auf 1.616 Einwohner ein Hausarzt kommen soll. Für Fachärzte gelten andere Zahlen. So soll etwa ein HNO-Arzt auf 17.396 Einwohner kommen, ein Augenarzt auf 12.548 Einwohner, ein Psychotherapeut auf 3.163 Einwohner. Aber entspricht das dem wirklichen Bedarf, der tatsächlichen Krankheitslast der Bevölkerung?

Die Bedarfsplanung geht zurück auf die 1990er Jahre. Damals machte der amtierende Gesundheitsminister Horst Seehofer als Kostentreiber im Gesundheitswesen unter anderem die wachsende Zahl niedergelassener Ärztinnen und Ärzte aus. Daher führte er mit dem „Gesundheitsstrukturgesetz“ erstmals bindende Verhältniszahlen ein. Dazu schrieb man den Ist-Stand in diesem Jahr einfach fest. Später wurden die Zahlen immer mal aktualisiert, aber bis heute sind sie nicht das Ergebnis umfassender Studien zur Morbidität, sondern eine willkürliche Setzung.

Ein zweites Instrument kam hinzu: Die Budgetierung. Jeder Praxis wird bis heute eine bestimmte Zahl von Patienten im Quartal zugestanden. Für weitere Behandlungen gibt es kaum noch Geld. So entstand im Grunde eine künstliche Verknappung des medizinischen Angebotes. In den letzten Jahrzehnten hat das irgendwie funktioniert. Doch jetzt werden die Wartezeiten vor den Praxen immer länger, die Beschwerden darüber lauter, die Lücken in der Versorgung größer. Was läuft mit einem Mal schief? Ein ganzes Bündel von Ursachen scheint hier zusammenzuwirken.

Ärzte: Die Zahl der Ärzte war nie höher als heute. Das Problem: Immer mehr davon kommen nicht mehr in der Versorgung an. Viele gehen in die Forschung oder ins Ausland.

Niederlassung: Die eigene Praxis ist kein Hit mehr. Junge Ärztinnen und Ärzte fürchten das finanzielle Risiko der Selbständigkeit und eine zu hohe Arbeitsbelastung, wollen mehr Freiraum für die Familie und persönliche Interessen.

„Arztzeit“: Die jungen Mediziner, die noch in die ambulante Versorgung gehen, bevorzugen Angestelltenverhältnisse in Großpraxen mit festgelegter Arbeitszeit, oft nur halbtags. Ein Praxisinhaber ist oft bereit, sein Arbeitspensum an die Behandlungserfordernisse anzupassen. Der angestellte Arzt im Nebenraum macht Schluss, wenn Feierabend ist. Intern gilt: Es braucht zwei angestellte Mediziner, um einen Praxisinhaber der „alten Schulezu ersetzen.

Landflucht: Der Trend geht zurück zum Leben in den Ballungsgebieten. Viele ländliche Regionen werden abgehängt, Infrastruktur, Bildungs- und Einkaufsmöglichkeiten dünnen sich aus. Für junge Mediziner und ihre Familien ist das unattraktiv. Viele Landarztpraxen werden unverkäuflich.

Hohe Standards, hohe Erwartungen: In kaum einem Land gehen die Menschen so häufig zum Arzt wie in Deutschland – jeder rund 18 Mal im Jahr. Sind Deutsche wirklich so viel kränker als etwa Schweden oder Japaner? Oder haben wir uns schlicht an eine üppige Rundum-Versorgung gewöhnt und schauen deshalb immer kritischer auf das eigene Befinden?

Patientensteuerung: Wer sich krank fühlt, kann sich aussuchen, wann er zu welchem Arzt geht. Manche suchen auch mehrere Ärze auf, „um ganz sicher zu sein.“ Längst liegen Konzepte für eine stringentere Patientenversorgung auf dem Tisch. Doch die Politik zögert, die liebgewordenen Ansprüche ihrer Wählerschaft zu beschneiden.

Leistungsüberfrachtung: Es gibt immer mehr neue, anspruchsvollere Behandlungsmethoden und mehr Vorsorgeuntersuchungen. Und: Die Krankenhäuser entlassen ihre Patienten aus Kostengründen so schnell wie möglich die Nachsorge bleibt dann an den niedergelassenen Ärzten hängen. Ohnehin ist das Prinzip „ambulant vor stationär“ gesetzlich verankert. Mit diesem Mehr an Leistungsansprüchen hat die Bedarfsplanung nicht Schritt gehalten.

Demographie: Der Anteil älterer Menschen an der Bevölkerung steigt immer mehr an. Ganz allgemein benötigen Ältere auch mehr medizinische Betreuung. Viele von ihnen leiden in hohen Lebensjahren an mehreren Krankheiten, müssen engmaschig kontrolliert oder zu Hause betreut werden.

Veränderte Morbidität: Bestimmte Krankheitsbilder nehmen zu. Diabetes etwa wird zu einer wahren „Volksseuche“, der bislang kaum adäquate Behandlungskapazitäten gegenüberstehen. Auch der Bedarf an Psychotherapie wächst immens. Zwar ist die Zahl der Psychotherapeuten in den letzten Jahren gestiegen. Doch jede Ausweitung der Behandlungskapazitäten ruft offenbar noch mehr Bedarf wach.

„Wir brauchen neue, attraktive Praxismodelle, mehr Entlastung der Ärzte von Routineaufgaben, mehr Effizienz durch Digitalisierung, mehr Einsatz von nichtärztlichem Personal, von Praxisassistenten und medizinischen Fachangestellten.“

Kurzum: Ein „Optimum“ ist bei der medizinischen Versorgung kaum zu ermitteln. Es ist auch eine Sache von Trends und von verbreiteter Wahrnehmung. Nur: Die Behandlungserfordernisse sind da. Was tun? Die vorgesehene Abschaffung der Praxisbudgets könnte neue Kapazitäten schaffen, die Wartezeiten verkürzen und Anreize setzen, mehr Patienten zu versorgen. Doch auch mehr Honorar lockt Ärzte nicht in Gegenden, in denen sie es nicht richtig ausgeben können. Auch ausländische Ärzte kommen vermehrt ins System. Doch ihre Zahl bleibt begrenzt und genügt nicht, um alle Lücken zu schließen. Und nehmen wir nicht anderen Ländern die dort ebenso benötigten Ärztinnen und Ärzte weg? Mehr Medizinstudienplätze jetzt nützen nicht viel: Die fertigen Ärztinnen und Ärzte kommen erst in 15 Jahren in der Versorgung an.

Es wird nicht gelingen, schlicht die Arztzahlen an die Fallzahlen anzupassen. Die Kardinalfrage lautet: Wie schaffen wir mit weniger Ärzten, weniger Praxen mehr Behandlungen? Dazu brauchen wir neue, attraktive Praxismodelle, mehr Entlastung der Ärzte von Routineaufgaben, mehr Effizienz durch Digitalisierung, mehr Einsatz von nichtärztlichem Personal, von Praxisassistenten und medizinischen Fachangestellten. So könnte die Quadratur des Kreises gelingen: mit weniger Arzt mehr Medizin – wieviel auch immer.

Kleines Lexikon zur Bedarfsplanung

Bedarfsplanung: legt fest, wie viele Ärzte jeder Arztrichtung sich in einem Gebiet niederlassen dürfen. Die Regeln dafür sind in der Bedarfsplanungsrichtlinie des gemeinsamen Bundesausschusses der Ärzte und Krankenkassen festgelegt.

Planungsbereich: Gebiet, für das eine bestimmte Zahl von Ärzten festgelegt wird. Für Hausärzte sind diese Gebiete kleiner, für Fachärzte größer definiert, da letzteren mehr Patienten zugeordnet sind.

Überversorgung: besteht, wenn in einem Planungsbereich mehr als 110 Prozent der Ärzte und Psychotherapeuten tätig sind als nach der Bedarfsplanung vorgesehen (Versorgungsgrad über 110 Prozent).

Unterversorgung: liegt vor, wenn in einem Planungsbereich weniger als 75 Prozent der Hausärzte oder weniger als 50 Prozent der Fachärzte tätig sind als nach der Bedarfsplanung vorgesehen.

Verhältniszahl: legt fest, wie viele Ärzte und Psychotherapeuten in einem Planungsbereich auf eine bestimmte Bevölkerungszahl kommen sollen.

Zulassungsbeschränkung: Wenn eine Überversorgung in einem Fachgebiet von mehr als 110 Prozent vorliegt, darf sich in diesem Planungsbereich kein weiterer Arzt dieser Fachrichtung mehr niederlassen.

Landesausschuss der Ärzte und Krankenkassen: Gemeinsames Gremium der Selbstverwaltung, das darüber entscheidet, ob etwa in einem Gebiet Unterversorgung herrscht und Maßnahmen zur Stärkung der Versorgung ergriffen werden müssen.

Sonderbedarfszulassung: Kann von der KVN nach Genehmigung durch den Landesausschuss ausgesprochen werden, wenn in einem Planungsbereich aufgrund besonderer Umstände Bedarf an zusätzlichen Ärzten einer bestimmten Fachrichtung herrscht.

Aktuelle Bedarfsplanungszahlen: www.kvn.de